Haydar Işık
„Verehrter Vorsitzender des Berliner Abgeordnetenhauses, verehrter Herr Momper, verehrter Herr Abgeordneter Giyasettin Sayan, verehrte Damen und Herren, meine Freunde, seit 74 Jahren schlafen die Dêrsimer, sie befinden sich in einer Art Winterstarre. Niemand erwähnt den Völkermord von Dêrsim. Weder diejenigen, die sich Linke nennen, noch die Aleviten. Die Gelegenheit, auszusprechen, was bislang nicht ausgesprochen worden ist, haben wir zum 1. Mal auf der Dêrsim-Konferenz in Brüssel 2008 ergriffen. Die Türkei versuchte damals, auf internationaler Ebene erheblichen Druck auszuüben. Um die Konferenz zu verhindern, setzte sie alle ihnen zur Verfügung stehenden Hebel in Bewegung: sämtliche diplomatischen Vertretungen, Konsulate und auswärtigen Vereine wurden instruiert, der damalige Außenminister Ali Babacan reiste persönlich nach Brüssel. Aber selbst er konnte gegen die Konferenz nichts ausrichten. Warum wollte er verhindern, dass die europäische Öffentlichkeit alles über den bereits 70 Jahre zurückliegenden Genozid erfuhr? Natürlich wollte er nicht, dass überhaupt irgendjemand von den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, vergleichbar den Nazi-Verbrechen, je davon erfuhr. Mit Hilfe der europäischen Sozialisten gelang es uns, die damalige Konferenz erfolgreich durchzuführen. Im darauffolgenden Jahr, 2009, kam es zu einer 2. Konferenz, diesmal mit Beiträgen zum Massaker in Dêrsim, zur Dêrsimer Kultur, Sprache und Geschichte.
Liebe Freunde, mit Zustimmung der Vereinten Nationen legte die „Kommission zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord“ 1948 fest, was unter „Völkermord“ zu verstehen ist: „Vorsätzliche Vernichtung von Angehörigen einer anderen Nationalität, anderer Ethnien oder Religionsgemeinschaften, seien es Gruppen oder einzelne Personen.“
Dies bedenkend lassen Sie uns auf den vom türkischen Staat verübten Völkermord in Dêrsim eingehen:
Die in Dêrsim lebenden Kurden haben vor dem Genozid ausschließlich Kurdisch gesprochen, d.h. man sprach die kurdischen Dialekte Kırmançki (Zazaki) und Kurmanci. Die Kurden von Dêrsim gehörten der Religionsgemeinschaft der Aleviten (Religionsgründer: Zarathustra), auch Kızılbaş („Rotkopf”) genannt, an. Von je her, nämlich seit 600 Jahren, hatte das Volk eine Okkupation Dêrsims durch die osmanischen Truppen verhindern können. Es war den Dêrsimern gelungen, ihre Autonomie gegenüber dem osmanischen Herrscher zu bewahren, feindliche Truppen konnten stets zurückgedrängt werden. Das heißt, bis in die 1930er Jahre war Dêrsim autonomes Gebiet. Es herrschte nach wie vor Autonomie.
Der Völkermord von 1937-38 bedeutete das Aus dieser Autonomie. Der Name „Dêrsim“ wurde ein Jahr vor dem Massaker auf Anordnung der türkischen Regierung in „Tunceli“ umbenannt. Um die Kurden ihrer eigenen Kultur zu entfremden, wurde in Kurdistan alles auf den Kopf gestellt. Sämtliche geographischen Eigennamen wurden dem Türkischen angepasst. Meiner eigenen Familie wurde der türkische Nachname „Işık“ übergestülpt, aus „Dêrsim“ wurde tunç-eli (d.i.: Faust von Kupfer, Kupferfaust), also „Tunceli“. Uns allen verordnete man türkische Nachnamen. So, wie die Eroberer der Indianer Amerikas es vorgemacht hatten, änderte man die Namen unserer Berge, Almen, Dörfer, Städte und Flüsse. Heute kenne ich nur die türkischen Namen unserer Dörfer von Dêrsim und Nazımiye, die kurdischen jedoch nicht. Auf diese Weise hat der türkische Staat die Brücke zwischen der kurdischen Vergangenheit und Zukunft abgebrochen. Der Genozid, der an uns begangen worden ist, erstreckt sich nicht nur auf die physische Vernichtung, gleichzeitig hat man uns sozial, kulturell, politisch und ökonomisch vernichtet, unser Volk kraft einer Assimilationspolitik auseinander gerissen und in alle Winde versprengt.
Es ist, mit Hilfe der türkischen Presse und anderer Medien gelungen, die türkische und europäische Öffentlichkeit seit 74 Jahren mit der Lüge einzuschläfern, der Völkermord sei eine „Säuberungsmaßnahme gegen das Banditenunwesen“ gewesen. Aber wir haben bisher noch nicht über Schuld und notwendige Bestrafung diskutiert, ebenso wenig über die bisher verheimlichten und immer noch andauernden, am kurdischen Volk begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie die Massaker in Dêrsim, Zilan und Ağrı.
Wenn Sie erlauben, so möchte ich das Wort als einer, der das Massaker überlebt hat, an Sie richten. Wenn ein Mensch wie Seyit Rıza aus Dêrsim mit einem Gewissen ausgestattet war, - er hatte über sich selbst gesagt, dass er sich seinem „Gewissen verpflichtet fühlte und daher für Freiheit und Glück“ seines „Volkes kämpfte“, - so müssen Sie und jeder Dêrsimer, wenn Sie ein Gewissen haben, Konferenzen wie diese materiell und immateriell unterstützen. In diesem kapitalistischen System funktioniert nichts ohne Geld, das ist Ihnen allen klar. Sie können hier aufstehen und Reden halten, doch wenn es an die praktische Umsetzung kommt, so ist niemand da.
Sehen Sie sich die Mitglieder der kemalistischen CHP, die den Völkermord in Dêrsim zu verantworten hat, an! Leute wie Kemal Kılıçdaroğlu, Kamer Genç und Hüseyin Aygün arbeiten Hand in Hand mit dem Feind, sie sind geradezu verliebt in die Mörder! Hüten wir uns vor dieser verdammenswürdigen Schwäche, aus der heraus wir unsere eigene Identität verleugnen, unsere eigenen Wurzeln verfluchen und in unsere Mörder verliebt sind.v
Um einer Homogenität willen beging die Türkei im Schatten des I. Weltkrieges nacheinander Genozid an den Armeniern, den syrischen Christen und dem kurdischen Volk, zuerst an den Armeniern, dann an den syrischen Christen. Die türkischen Behörden verlangten von den Kurden Dêrsims die Auslieferung zahlreicher Armenier, denen sie während des Genozids Unterschlupf gewährt hatten. Aber die Dêrsimer retteten sie vor dem sicheren Tod und lieferten sie nicht ans Messer Sie taten dies auch, um sich an den türkischen Nationalisten zu rächen. Hatten diese doch von den Selçuken und den sunnitischen Osmanen die feindliche Haltung gegenüber den Dêrsimern, den Anhängern der Religion Zarathustras übernommen. Die Dêrsimer Rettungsaktion kann sozusagen auch als Racheakt an den türkischen Nationalisten gesehen werden.
Nachdem man sich der Christen in der Türkei entledigt hatte, waren nur noch die Kurden übrig, die nicht zu der mit Blut besudelten staatlichen Ideologie der „Ein Volk, eine Nation, ein Staat, eine Sprache, eine Religion, eine hanefitische Richtung – Harmonie“ passten. Aus diesem Grund trat 1925 der „Reformplan Ost“ in Kraft und Kurdistan wurde einer gewaltsamen Türkisierung unterworfen. Die Kurden wehrten sich gegen den Verlust ihrer Identität, Muttersprache und Kultur, die das kemalistische Regime unter Einsatz des Militärs mit großer Brutalität durchsetzen wollte. Dêrsim war die letzte Region, in der dies noch nicht gelungen war.
Am 14. Juni 1934 verabschiedete das türkische Parlament unter der Nummer 2510 ein Siedlungsgesetz, wonach die Kurden unter erheblichem Druck gezwungen wurden, ihre eigene Heimat zu verlassen und sich in Gebieten, weit entfernt von ihrer angestammten Wohnstatt anzusiedeln. Ohnehin wurden nach dem Massaker von Dêrsim die Überlebenden des Genozids und Zigtausende Kurden vertrieben. Dabei wurde darauf geachtet, dass der Anteil der Kurden an der türkischen Bevölkerung in den neuen Siedlungsgebieten zehn Prozent nicht überstieg.
1935 erließ die Regierung das „Dêrsim-Gesetz“, dem entsprechend wurde der Ort in „Tunceli“ (Tunç Eli = Kupferfaust) umbenannt. Am 4. Mai 1937 erteilte der Ministerrat dem Militär den Befehl, Dêrsim einzunehmen. Der Angriff begann. Der von Mustafa Kemal und seinen Freunden entwickelte Plan, Dêrsim physisch, kulturell, sozial, politisch und ökonomisch zu vernichten, wurde in die Tat umgesetzt.
Das Volk von Dêrsim wurde wie das Volk von Guernica unter einem faschistischen Bombenhagel begraben. Die Demokraten der ganzen Welt fanden sich gegen Franco, Hitler und Mussolini zusammen, sie alle wussten von dem Guernica- Massaker, ihre Solidarität mit dem Volk von Guernica war beispielhaft. Viele eilten den Menschen von Guernica und dem spanischen Volk zur Hilfe. Ganze Regimenter zogen nach Spanien, um gegen Franco zu kämpfen.
Aber niemand ahnte, dass hinten in der Türkei das Volk von Dêrsim ausgelöscht wurde. Im Schatten des Faschismus wurden zigtausend wehrlose Menschen abgeschlachtet. Selbst die türkische Öffentlichkeit hatte keine Ahnung von diesem grauenhaften Massaker. Weder die türkische Gesellschaft noch die Welt wusste von den Ereignissen in Dêrsim. Noch heute wird weiter unterdrückt, wenn auch mit moderneren Methoden, aber mit dem gleichen Ziel. In Dêrsim fand der letzte kurdische Genozid statt, aber er ist noch nicht zu Ende, er dauert an. Von Dêrsim bis Hakkari, von Hakkari bis Kars, von Kars bis Urfa: auf einer riesigen Fläche finden ungesühnte Verbrechen der türkischen Konter-Guerilla statt, tausende von Zivilisten werden ermordet, die unter Einsatz von Chemiewaffen Getöteten werden zusammen mit Überlebenden eilig verscharrt – Kurdistan ist ein einziges „Massengrab“ geworden. Die Kasernen, die Gärten der Polizeistationen, die Müllhalden und Flüsse – sie alle sind angefüllt mit Bergen von kurdischen Leichen. Mehr als die Hälfte des türkischen Militärs steht in Kurdistan. Unser Volk ächzt unter dem Druck des turko-faschistischen Regimes. Es bleibt noch zu erwähnen, dass der ethnische Völkermord in Form des Verbots der kurdischen Sprache weiterhin besteht.
Sabiha Gökçen, eine von M. Kemals Adoptivtöchtern, bombardierte als Pilotin die Dörfer Dêrsims, sie hat 1937-38 ein Verbrechen von bis dahin ungekannter Art begangen. Die Kurden von Dêrsim haben jedoch nie daran gedacht, sich gegen den Staat zu erheben oder ihn auch nur zu kritisieren.
Ministerpräsident Tayyip Erdoğan erklärte öffentlich: „Der Staat hat in Dêrsim 50 000 Menschen ermordet.“ In einer Zeit, in der sich der türkische Staat davor fürchtet, die Archive könnten für Forschungen geöffnet werden und deshalb die Akten zum Völkermord in Dêrsim unter Verschluss hält, muss eine solche Aussage auf höchster Ebene, nämlich vom Ministerpräsidenten persönlich, wie das Zugeständnis der Wahrheit wirken. Allerdings kam kein Wort des Bedauerns, der Bitte um Verzeihung über seine Lippen, und so drängt sich der Verdacht auf, das Ganze sei tendenziös und bloß ein taktisches Manöver gegen die Oppositionsparteien.
Die Türkei ist verantwortlich für den Tod von 70 000 Dêrsimern, Frauen, Kindern, Alten und Jungen. In voller Absicht tötete der Staat die Kurden in Dêrsim, er nahm ihnen ihren Lebensraum. Ist das etwa kein Völkermord?
Ohne Unterschied bombardierte die Türkei alle und alles in Dêrsim. Die Menschen wurden mit Giftgas umgebracht, die Überlebenden vertrieben. Auf diese Weise wurde die Demografie von Dêrsim über Generationen irreparabel zerstört. Die Kurden von Dêrsim als selbstständige, ethnische und religiöse Gruppe haben sich auch später davon nie erholt.
Man muss schleunigst eine Frage stellen: Warum hat die Türkei 70 000 Kurden ermordet? Es ist von 80 000, sogar 90 000 kurdischen Opfern in Dêrsim die Rede.
Der ehemalige Außenminister Sabri Çağlayangil, der während des Völkermords das Amt des Obersten Polizeichefs von Malatya bekleidete, sagte in einem Interview Folgendes:
„Das Militär setzte Giftgas ein. Sie starben wie die Ratten in den Höhlen. Sie brachten Kurden um, die Getöteten waren zwischen 7 und 70 Jahren alt.“
Auch wenn die Ermordung von Menschen, die sich in Höhlen geflüchtet hatten, durch Giftgas nicht in der quasi industrialisierten Weise wie die Vergasung der Juden in Auschwitz betrieben wurde, so ist doch offenkundig, dass man hier von einem Massenmord sprechen muss.
George Tabori, der berühmte jüdische Theaterregisseur, sagte 2000 in der „Süddeutschen Zeitung“:
„Ich habe den Holocaust nicht nur einmal gesehen. Auf die Kurden bezogen trifft dieses Wort sehr wohl zu.“ So ist es, und wir haben im Kurdischen auch ein Wort, das dem Wort SHOAH entspricht: TERTELE. „Tertele-Dêrsim“. Wenn Sie erlauben, so möchte ich an dieser Stelle eine Begebenheit aus meiner eigenen Vergangenheit einflechten. Meine Mutter hat mir davon erzählt:
„Die türkischen Soldaten haben eines Tages in unserem Tal Äste gesammelt, daran banden sie dann die Kurden fest, übergossen sie mit Benzin und setzten sie in Brand. Ich habe mich mit dir monatelang im Wald versteckt und dich ständig gestillt, damit du nur ja nicht schreist.“
Viel später dann, während der Ernte am Fuße des heiligen Berges Düzgün, habe ich die Knochen der Toten auf den Feldern gesehen. Ich erinnere mich, dass wir als Kinder jede Menge Menschenknochen auf der Hochalm gesammelt und begraben haben: Ja, die Hochalm unseres Dorfes am Fuße des Düzgün ist eine regelrechte Grabstätte. Den ganzen Sommer lang haben wir Menschenknochen gesammelt und begraben.
Necip Fazıl Kısayürek schreibt:
„In dieser Tragödie kamen wenigstens 50 000 Muslime ums Leben. (…) Im Dorf Yusuf Cemil wurden 200 Frauen und Kinder getötet, ihre Leichen legte man auf Stroh, das zündeten sie an. Unter den Getöteten war auch einer, der hieß Rüstem. Dieser machte gerade seinen Militärdienst in Elazığ und war auf Besuch in seinem Dorf. Es nützte dem Armen nichts, dass er seinen Ausweis und Urlaubsschein vorzeigen wollte, sie erschossen ihn mitsamt seinen vier Kindern und seiner sechzigjährigen Mutter. (…) Zur selben Zeit ereignete sich in Zımbık, einem Dorf in der Region Hozat, etwas, das Hamlets Horrorvision noch übertreffen könnte. Die Männer hatte man zerstückelt, an die 100 Frauen und ihre Kinder mit Bajonetten aufgespießt. Eine der ermordeten Frauen war hochschwanger und stand kurz vor ihrer Niederkunft. Man hatte ihren Leib aufgeschlitzt, die Gedärme herausgerissen, ebenso ihre Gebärmutter. Später, nach dem Abzug der Mörder, wagten sich die wenigen Frauen, die das Massaker überlebt hatten, aus ihren Verstecken hervor und entdeckten voller Grausen, dass das Kind im Leib der toten Mutter noch am Leben war.
Sie nahmen das Kind, das einer Laune des Schicksals sein Leben verdankte, in ihre Obhut, stillten es, zogen es groß und gaben ihm den Namen „Besi“. Dieses Mädchen lebt bis heute in seinem Dorf. Die Narbe an einer seiner Fersen erinnert noch immer an die Stelle, an der das Kind, noch im Bauch seiner Mutter, vom Bajonett verletzt worden war.“
Necip Fazıl Kısayürek, der das grauenhafte Massaker erwähnt, ohne etwas zu verheimlichen, der von 50 000 brennenden, zu Asche verbrannten Leichen spricht, ist weder Kurde noch Alevit. Er ist heute einer führenden Islamisten in der Politik und der Meister von Erdoğan.
Zu Tausenden wurden die schönsten kurdischen Mädchen den erfolgreichen Offizieren als Trophäe zugeführt. Wenngleich Jahre später das Schicksal einiger weniger bekannt wurde, so weiß man nicht, was aus den meisten geworden ist.
Die Türkei hat sich nicht nur des Genozids schuldig gemacht, sie hat auch mit aller Macht Ethnozid betrieben und ethnische Säuberungen durchgeführt.
Wie eine Walze überrollte das türkische Militär Dêrsim, unaufhaltsam und mit äußerster Brutalität machte es sich des Völkermordes schuldig. Und nachdem zigtausende der Unsrigen abgeschlachtet, zigtausende vertrieben waren, machte man sich an die Umerziehung der Überlebenden in zu Schulen umfunktionierten Kasernen. In diese Bezirksinternatsschulen, die an die Janitscharen-Kadettenschulen der Osmanen erinnerten, steckte man die kurdischen Kinder, nachdem Beamte sie nach dem Zufallsprinzip aus den Dörfern eingesammelt hatten. Dort wurden die Kinder unter dem Motto „Jeder soll ein Türke sein” ganz wie in den alten osmanischen Zeiten türkisiert. (Hier haben wir es mit einer Wiederaufnahme der osmanischen Tradition der Knabenlese zu tun, d.i. der Tribut, den die Christen dem Staat zollten, nämlich indem ein Sohn der Familie zum Dienst im Elitekorps gezwungen wurde).
Es gab Kinder, deren Großväter und Vater im Massaker von Dêrsim umgebracht worden und nach einer „erfolgreichen” Umerziehung zu „guten Quasi-Türken” geworden waren. Der Staat verfolgte hierbei das Ziel, diese Kinder eines Tages gegen die Kurden einsetzen zu können.
Und so hatte man uns unseren Wurzeln, unserer Geschichte entfremdet und uns in einen Assimilationstopf geworfen. Früher verwendete man bei uns zum Färben ausschließlich Färbemittel aus der Natur. Die weiße Wolle warf man in einen großen Kessel und färbte sie je nachdem rot, gelb oder grün. Und so warf man uns wie Wolle in einen Kessel, veranstaltete irgendeinen Hokuspokus und nannte das Ganze Assimilation. Die Identität eines Menschen aber setzt sich aus Vielerlei zusammen, als da sind: Vergangenheit, Kultur, das Sprechen und Erlernen von Fähigkeiten im Alltag, das Erlernen der Muttersprache, dazu gehören auch alle anderen wichtigen Ereignisse im Leben eines Menschen: Geburt und Tod, Hochzeit und Begräbnis ebenso wie religiöse Rituale und Feiern. Sie sind alle tief im Bewusstsein eines Menschen verankert und schaffen Identität. Wenn Sie einem Menschen diese seit tausenden von Jahren gewachsenen Dinge nehmen, so verliert er seine Identität, er wird zu einem Niemand.
Sowieso hat die türkische Politik nur dies im Auge, nämlich, den Menschen zu einem Niemand zu machen. Ich weiß noch genau, dass ich am Tag meiner Einschulung, ich war sieben, nicht ein einziges Wort Türkisch konnte. Bis zu jenem Tag hatte ich mit meiner Mutter ausschließlich Kurdisch geredet. Erst danach habe ich gezwungenermaßen die Sprache der Unterdrücker, die Sprache der Ausbeuter erlernt. In den Schulen wurde mir die Sprache der Ausbeuter beigebracht, und ich hatte das Gefühl, die Sprache meiner Mutter sei keine Sprache irgendeiner Gesellschaft oder überhaupt eine Sprache von menschlichen Individuen. Es war mir nicht erlaubt, in der Sprache meiner Mutter zu weinen oder zu lachen, geschweige denn zu sprechen, das war sowieso verboten.
Wenn das Kurdische bis heute noch am Leben ist, so haben wir das der heldenhaften Treue der kurdischen Mütter zu verdanken. Wenn die Jugend, in den Schulen und Kasernen erzogen und assimiliert, sich quasi selbst zensierend nicht mehr Kurdisch sprach, so sagten die kurdischen Frauen: „Zarathustra hat uns vor mehr als tausend Jahren unsere Sprache gelehrt, unsere Kultur und unser Glaube sind uns heilig, wir haben sie von unseren Vätern ererbt.”
Die kurdische Frau, die weder türkisiert noch islamisiert worden ist, war schon immer gleichberechtigt neben dem Mann, sie war immer in den Demokratiebewegungen verankert und wird es immer bleiben. Seit 1400 Jahren werden im Namen des Islam Massaker verübt, einhergehend mit Assimilationskampagnen, mit der diese Entwicklung tausende von Jahren zurückgeworfen, in den Schmutz gezogen und am Ende begraben werden soll.
Die Vorstellung, dass ein Mann doppelt so viel wert wie eine Frau sei, hat die arabische Kultur geprägt, und nun sehen Sie sich diese armen Frauen, denen man das Denken ausgetrieben hat, einmal an und vergleichen Sie ihre Situation, bzw. die Ideologie, die hinter dies
er Erscheinungsform steht, mit der überragenden mehrtausendjährigen Lehre und Religion des Zarathustra!
Das Kurdentum lässt mich auch in Deutschland nicht los. Seit 27 Jahren habe ich die deutsche Staatsbürgerschaft und schon oft wurde meine Tür eingetreten, meine Wohnung durchsucht, weil ich Kurde bin. Man hat mich vor Gericht gestellt. Meine Akten wurden vom deutschen Gericht aus der Türkei angefordert. Aber noch jedes Mal wurden meine Beschwerden über das mir angetane Unrecht von deutschen, rechtstreuen Richtern abgewiesen, ohne dass es zu einer Verhandlung gekommen wäre. Sie wussten sehr genau, dass der türkische Staat kein Rechtsstaat ist, dass meine Akten auf Druck und Veranlassung einiger Männer, die der Staat braucht, um das faschistische Regime am Leben zu erhalten, gefälscht waren.
Folgendes ist mir zwei Mal passiert: Auf meinen Einwand, so könne man mit einem deutschen Staatsbürger nicht umgehen, reagierte die Polizei mit: „Aber Sie sind Kurde.“ Mit anderen Worten, auch wenn ich Deutscher bin, so verfolgt man mich und legt mir mein Kurde-aus-Dêrsim-Sein zur Last.
Am Ende eines Prozesses rief mich der Richter zu sich und flüsterte mir ins Ohr: „Herr Işık, wenn Sie einen eigenen Staat hätten, würden Sie mir jetzt nicht gegenüberstehen.“
Zum Einen: Die Kurden sollten diese Worte nie vergessen.
Zum Anderen: Selbst ein Europäer weiß, dass die Dêrsimer Kurden und somit Indoeuropäer sind. Kamer Genç, der in den letzten 30 Jahren als Dêrsimer Abgeordneter dem türkischen Staat im Özel Harp Dairesi gearbeitet hat und aus einer Geheimkasse bezahlt wurde – dieser Mensch, der manche zum Tode verurteilten Dêrsimer verhungern ließ, der seine eigene Herkunft verleugnete, der wie ein Paradiesvogel in einem der schicken Appartementhäuser in Ankara lebte, der die Geschichte verdrehte, dieser Kamer Genç wusste nicht, dass er Kurde war: „Wir sind keine Kurden, wir sind waschechte Türken!“, so seine Worte. Er ist die Schande Dêrsims. Die Dêrsimer Enkel von Şeyit Rıza sollten sich von diesem Schandfleck distanzieren.
In den Jahren nach 1938 herrschte in Dêrsim mit Hilfe der Menschen, die wie Kamer Genç türkisiert waren, Grabesstille. Kamer Genç und Kılıçdaroğlu sind Beispiele für die Türkisierung. Allerdings begnügte man sich in Dêrsim nicht mit dem Völkermord. Die kurdische Geschichte von Dêrsim, seine Kultur, die zoroastrische Religion und die kurdische Sprache sollten für immer aus dem Buch der Geschichte gelöscht werden. Die physische, politische, ökonomische und kulturelle Auslöschung hinterließ eine ungeheure Wirkung. Noch Jahre nach dem Völkermord durchlebte Dêrsim einen „Weißen Völkermord“, und dieser weiße Völkermord zusammen mit dem eigentlichen von 1937-38 findet kein Ende. Ganze Landstriche in Dêrsim sind seit vielen Jahren zu Sperrzonen erklärt worden. Immer noch werden auf den Bergen, den Hügeln mit moderner Technologie ausgestattete Polizeiposten eingerichtet. Alles steht unter der scharfen Bewachung der Besatzungsmacht.
Wir Überlebenden des Dêrsimer Völkermords litten großen Hunger und waren ohne Hoffnung. Ich erinnere mich gut daran, wie meine Mutter im Winter Angst hatte, die Vorräte würden nicht reichen. Sie wusste nicht, ob sie ihre Kinder retten und lebend über den Winter bringen könnte. Viele Kinder verhungerten damals oder starben an Infektionen.“
**
Azad Ronî:
Der physischen folgte die ökonomische, kulturelle und soziale Vernichtung. Dörfer wurden bombardiert, Häuser dem Erdboden gleich gemacht. Seit tausenden von Jahren hatten die Dêrsimer hier Ackerbau und Viehzucht betrieben – nun wurde ihnen das Vieh genommen, die Ernte aller Felder vernichtet. Die Mörder, die Schlächter, Plünderer und Räuber nahmen alles mit, was sie nur kriegen konnten. Die türkische Soldateska annektierte Anatolien, vertrieb die Menschen, beging auf jede erdenkliche Weise Gräueltaten und Völkermord, raubte und plünderte, nahm dem Volk alles, dessen sie habhaft werden konnte. Allerdings bemühte sich das Militär, das Volk mit der Lüge, dies alles sei geschehen, „weil man gegen das Banditenunwesen gekämpft habe und ihnen die Zivilisation bringen wolle“, einzulullen, und somit schoben sie dem kurdischen Volk die Schuld für die Plünderungen, Morde und den Genozid in die Schuhe. Dieser Parolen hatten sich schon die Osmanen bedient.
Es gab ein ernsthaftes Problem: wo sollten die Menschen jetzt ihre Zuflucht finden? Die Schulen und Krankenhäuser, die die Dêrsimer während der Unabhängigkeit von den Dêrsimern im Rahmen ihrer Möglichkeiten errichtet hatten, waren zerstört, desgleichen die Grundlagen ihrer Ökonomie, von Ackerbau und Viehzucht.
Das, was Hitler den Juden und den Sinti und Roma angetan hat, ähnelt dem, was die Türkei des Mustafa Kemal veranstaltete. M. Kemal machte sich schuldig an den Kurden von Dêrsim, die seit tausenden von Jahren autonom auf eigenem Grund und Boden ein freies Leben führten, an einem indoeuropäischen Volk, das der Religion und der Kultur Zarathustras anhängt.
Die Juden wanderten nach Palästina aus, um im „Gelobten Land“ eine neue Heimat und einen zionistischen Staat zu errichten. Sie hatten aber immer die Hoffnung, dort ein neues Leben beginnen zu können. Die Dêrsimer hatten diese Hoffnung nicht. Sie lebten weiter auf eigenem Boden! Die Überlebenden wussten nicht, was sie tun sollten, unterdrückt von einer institutionalisierten faschistischen Politik der Assimilation, die sie ihrer Arbeits- und Lebensfähigkeit beraubtatte. Die physische, ökonomische und kulturelle Vernichtung und die Besetzung durch die türkischen Soldaten bedeutete auch den Verlust der Autonomie. Dêrsims Niederlage aus politischer Sicht war enorm. Dêrsim hatte seine Autonomie, seine Freiheit und seine Religion eingebüßt. Dies vor Augen, ließen die Dêrsimer alle Hoffnung auf ein individuelles Leben und eine Zukunft fahren.
Das erklärte Ziel der Türkisierung war, sowohl den Einzelnen als auch die ganze Gesellschaft in seelenlose Roboter, denen man das Geschichtsbewusstsein genommen hatte, zu verwandeln. Die Sehnsucht nach Freiheit, nach unserer zehntausendjährigen Geschichte, die man uns nehmen will, nach unserer Sprache, unserer Kultur und unserer zarathustrischen Religion ist größer und umfassender als unser
Bedürfnis nach Materiellem.
Ich bin immer noch von der gefühlvollen und berührenden Stimme Haydar Işıks, seinen Gedanken und Berichten zum Dêrsimer Völkermord tief beeindruckt.
**
„Nach dem Massaker waren viele Dêrsimer traumatisiert. Man zwang sie, ihre Söhne entweder „Kemal“ oder „Mustafa“ zu nennen. Der Druck war grenzenlos, und um das Leben der Kinder zu erhalten und sie vor den Staatsdienern zu schützen, änderten die Menschen ihre Vor- und Nachnamen, parallel dazu wurden die Melderegister nach West-Anatolien verlegt.
Wegen dieses vom Staat herbeigeführten Elends, ausgelöst durch den staatlich angeordneten Völkermord, die Ausbeutung und die Vernichtung unserer Ökonomie, mussten wir unser Dorf Qisle (türk. Nazimiye) verlassen und wurden ins Dorfinstitut von Akçadağ zur Umerziehung geschickt. Wir kurdischen Kinder mussten in weißer Unterwäsche vor unserem Lehrer stramm stehen! Von den anderen Kindern wussten wir, dass wir immer, wenn der Lehrer kam, alles wiederholen sollten, was er uns sagte. Der Lehrer kam, und als er sagte: „Ich bin Türke“, so sagten wir: „Ech ben Terke.“ So hat man uns assimiliert; sie haben unser Gehirn gewaschen, unsere Seelen zermalmt.
Die türkischen Lehrer verboten uns, zu Hause Türkisch zu sprechen. Wer sich dem widersetzte, bekam Stockhiebe. Sie fanden immer neue Möglichkeiten, sich uns gegenüber unmenschlich zu verhalten, wie Hunde behandelten sie uns. Ja, ja, sie erzogen uns zu Türken wie man deutsche Schäferhunde erzieht. Wenn die Deutschen ihren Hunden „Sitz!“ befehlen, so gehorchen sie. Das ist etwas ganz Schreckliches!
Jeden Tag verbrachten sie stramm, mit einem Lächeln auf den Lippen und freundlichen Blicks in der Schule, nahmen unsere Seelen in Besitz und zwangen uns beim Satz „Welch ein Glück, sagen zu können, ich bin Türke!“ zu schwören. Sie haben uns wie die „Janitscharen“ gedrillt. Sie unterzogen uns einer richtigen Gehirnwäsche. Man kann diejenigen, denen es gelang, sich von dieser Umerziehung durch die weiße Assimilationspolitik zu befreien, an den Fingern abzählen. Die meisten von uns, denen dies nicht gelang, begannen, sich als Türken zu fühlen.
Wenn heute meine Enkel immer noch zu diesen Ritualen gezwungen werden, dann frage ich mich, ob die Türkei ein demokratisches Land ist, oder ob es nicht heimlich von Faschisten regiert wird? In den Schulen wird Türke-Sein gleich gesetzt mit Erhabenheit und Heldentum; die Pflicht anderer Völker beschränkt sich darauf, den Türken untertan zu sein.
„Welch ein Glück, sagen zu können, ich bin Türke!“
„Ein Türke ist eine ganze Welt wert!“
Diese und ähnliche Parolen stehen in riesigen Buchstaben an den Hängen der Berge Kurdistans, überall kann man sie an den Häuserwänden in den Städten lesen. Sie sind auch heute noch da und werden von den Soldaten geschützt.
Die Kurden teilte man unter vier Staaten auf. Mit Hilfe der türkischen und arabischen Kultur sollten sie ihrer eigenen Kultur, Sprache und Geschichte entfremdet werden, sie konnten ihre Muttersprache höchstens als historisches, ausrangiertes Vehikel retten. Für uns Kurden ist die Muttersprache ewig und unzerstörbar in uns, sie gehört zu uns wie Zement zu einem Haus. Sie ist unser Lebenselixier. Auch die Sprache der Kurden wollte der türkische Staat mit seiner Politik des Leugnens vernichten.
All dies habe ich, nachdem ich selber Lehrer geworden war, gemerkt und gesehen. Aus diesem Grund habe ich gegen den kulturellen Völkermord gekämpft. Ich gebe offen zu: ich bin als Rassist, Rassentheoretiker und Anhänger der Einzigartigkeit „unserer“ Rasse erzogen worden. Ich kann mich noch gut erinnern. Unser Lehrer im Dorfinstitut benutzte ein Maßband, um den Umfang unserer Schädel zu messen. (An dieser Stelle legt Haydar Işık mit seinen Händen einen Kreis um seinen halbkahlen Kopf und führt vor, wie der Lehrer damals Maß bei ihnen genommen hatte). Danach sagte er: „Ihr habt türkische Schädel, also seid ihr waschechte Türken.“ Und so machte man uns kleine Jungen glauben, wir seien Türken.
Ich frage Sie: Wie viele Menschen hätten wohl dem Gift der Assimilationspolitik widerstehen können? 1980, während der Militärdiktatur, wurde vierzehntausend Personen, darunter auch mir, die Staatsangehörigkeit aberkannt. Ich verlor alles, und was ich besaß, wurde verkauft. Aber das Schlimmste, was man mir jemals angetan hat, war der Raub meiner Muttersprache. Das ist zweifelsohne das größte Unrecht, das man einem Menschen antun kann. Es ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dass der türkische Staat mir meine Muttersprache geraubt hat.
Aus diesem Grund kann ich meine Bücher nicht in meiner Muttersprache schreiben, ich muss das Türkische benutzen. Seit Gründung der Republik werden die Kurden aus ihrer Heimat vertrieben. Dies geschieht heute mit Hilfe der westlichen Zivilisationen in moderner Weise: Der kleine Fluss Munzur in Dêrsim soll mit 20 Dämmen gestaut werden, dies ist nichts anderes als die Fortsetzung des kurdischen Genozids. Noch heute brennen die bei uns stationierten Streitkräfte unsere Wälder ab und setzen unsere Dörfer in Brand. Jeden Tag überfliegen Kampfflugzeuge das Gebiet von Kurdistan, werfen Bomben ab und machen ganze Landstriche unbewohnbar.
In den letzten 30 Jahren wurden allein in Dêrsim 300 Dörfer dem Erdboden gleich gemacht. Diese Vernichtungspolitik der Türkei ist der Grund für die Abwanderung eines Großteils der Dêrsimer Kurden, nämlich 70 %. Millionenfach wanderten Dêrsimer Kurden in den Westen Anatoliens und nach Europa aus. Dêrsim ist seitdem unter dem Druck der umfassenden Vernichtung nahezu entvölkert. Die Menschen von Dêrsim leben heute traumatisiert fern von ihrer eigentlichen Heimat. Diejenigen, die die Türkei nicht verlassen haben, leben in Istanbul, Izmir, Mersin, Antalya und Adana. Zigtausende von ihnen haben ihre Zuflucht in Deutschland und anderen europäischen Staaten gefunden, sei es, um der Arbeitslosigkeit zu entgehen oder aus politischen Gründen.
Wer als Heimatloser gezwungen ist, in der Fremde zu leben, leidet an gebrochenem Herzen. Es nützt ihm auch nichts, wenn er sich an das in seiner Heimat ihm angetane Unrecht erinnert. Er weiß ganz genau, er hat nicht nur das Trauma mit sich in die Diaspora gebracht, sondern auch die Erinnerungen. Immer, wenn er in der Diaspora erfährt, dass türkische Soldaten einen Verwandten oder Freund getötet haben, oder dass das Militär im Kampf gegen die Guerilla ganz bewusst die Wälder in Brand setzt, oder wenn ihn die Nachricht erreicht, dass im Kampf gegen die Kurden die Türkei und der Irak chemische, in Europa produzierte Waffen einsetzen, immer dann wird sein Herz von neuem gebrochen.
Dêrsim, meine Heimat, der Grund meines Daseins, meine Muttersprache, das ist Dêrsim; Dêrsim, das bedeutet für mich Liebe zu den Menschen und zur Natur, aber gleichzeitig ist es auch mein Trauma. Es ist meine Heimat, meine Muttersprache, meine Identität und meine Kultur. Unser ganzes Bemühen richtet sich darauf, in unblutiger Weise all das zurück zu erhalten, was man mir und allen Kurden gewaltsam genommen hat.
Mit meiner Rede hoffe ich, eine Erkenntnis in Gang gesetzt zu haben: Die Türkei hat mit dem Massaker ein Ziel verfolgt: die Sprache der Kurden sollte verschwinden, und die Kurden sollten ihre Autonomie in politischer und religiöser Hinsicht verlieren.
Der türkische Staat ermordete zehntausendfach die Kurden von Dêrsim.
Der türkische Staat verjagte die Dêrsimer aus ihrer Heimat.
Der türkische Staat zwang sie zur Assimilation.
Das ist Völkermord.
Deswegen fordern wir von der Türkei, die sich Rechtsstaat nennt, wie die anderen Rechtsstaaten dieser Welt auch, den Völkermord zuzugeben und sich dem zu stellen! Wir sollten uns aber nicht mit dem Lippenbekenntnis, dem Zugeständnis einer Schuld zufrieden geben. Wir müssen auf der praktischen Durchführung eines wahrhaften Demokratie- und Autonomie-Projekts in Anatolien bestehen. Nur dann kann in Anatolien und Kurdistan Unabhängigkeit wieder hergestellt werden.
Freunde, ich betone: Wir sind ein Volk, ausgestattet mit althergebrachten ethnischen und religiösen Besonderheiten und Eigenschaften: unserer Sprache, Identität, Kultur, Geschichte und unserer Religion. Diese einem Volk nehmen zu wollen, ist Ausdruck einer großen Verachtung. Wir haben genug davon gesehen und gehört und wollen sie nicht mehr. Wenn wir Kurden sind, so wollen wir auch als solche in der Türkei leben können. Wenn wir Aleviten sind, wollen wir unsere Religion in der Türkei ausüben. Wir wollen die Türkei nicht spalten. Wir wollen das Recht haben, im Rahmen einer demokratischen Unabhängigkeit in einer Gesellschaft zu leben, einer Gesellschaft, in der wir den Türken zahlenmäßig weder überlegen noch unterlegen sind. Wir wollen ein ganz normales Leben wie alle anderen auch führen. Diese Konferenzen sind ein Meilenstein auf dem Weg dort hin.“